Paradise Lost

Wie schon in der Ausstellung „Innocent“ stellt sich Waller mit ihrer jüngsten Werkreihe „Victims“ erneut dem Thema weltweiter und vielfältiger Gewalt gegen Kinder, den schwächsten und wehrlosesten Mitgliedern unserer Gesellschaft. Angesichts des bitteren Ernstes der Thematik verzichtet die Künstlerin in diesen Werkreihen ganz bewusst auf die ironische Brechung und den schwarzen Humor, die ihre Arbeiten sonst so oft auszeichnen. Zwar ist es nicht Wallers Anliegen politisches Zeitgeschehen zu kommentieren, auch wenn ihr sehr bewusst ist, dass sich Kunst immer in einem politisch-gesellschaftlichem Kontext bewegt. Dennoch ist die Aktualität der gewählten Bildsprache der in den letzten Jahren entstandenen Arbeiten erschreckend.

Die Coronakrise hat mit ihren teilweise sehr harten Lockdowns die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erneut auf das Problem häuslicher Gewalt gelenkt, der Kinder so häufig ausgesetzt sind. In dieser Zeit, während Familien auf engem Raum isoliert waren, kam es zu einem Anstieg emotionaler und körperlicher Gewalt. Auch sexuelle Übergriffe auf Kinder sind in den letzten Jahren medial verstärkt in den Fokus geraten. Dabei standen nicht nur die Vorfälle im Rahmen der katholischen Kirche und deren Vertuschungsversuche im Vordergrund, auch neue Erkenntnisse bezüglich der systematischen Misshandlung nativer Kinder in kanadischen Schulanstalten im 20. Jahrhundert zeigten Erschreckendes auf. Besonders schockierend sind in diesem Zusammenhang auch die regelmäßig wiederkehrenden Schulmassaker in den USA, die immer wieder die gleichen floskelhaften Betroffenheitsbekundungen hervorrufen, aber keine Verschärfung laxer Schusswaffengesetze nach sich ziehen: finanzielle Interessen und ideologische Dogmas scheinen wichtiger als das Wohl der Kinder.


Die schrecklichen Auswirkungen von Kriegen auf die körperliche und psychische Gesundheit von Kindern wird uns gerade dieser Tage wieder eindrücklich vor Augen geführt. Wallers Arbeiten beschränken sich dabei nicht nur auf die Opfer direkter oder indirekter Kampfhandlungen, etwa Kinder, die durch Bombenangriffe oder Minen Gliedmaßen verloren haben, oder traumatisierte Kinder in Flüchtlingslagern. Auch zwangsrekrutierte und systematisch gehirngewaschene Kindersoldaten sind Opfer von Gewalt, die von Erwachsenen ausgeht. Flächenbombardements, Massaker, Zerstörung von Städten und Lebensräumen, Nahrungsmittelknappheit, Inflation und Wirtschaftskrisen treffen Kinder, welche die Zusammenhänge nicht verstehen können, keine emotionale Widerstandskraft aufgebaut haben und völlig abhängig sind, besonders hart und hinterlassen tiefe körperliche und seelische Narben. Die Künstlerin hat als Kind selbst noch die traumatisierten Väter und Mütter gekannt, die nicht über ihre Kriegserfahrungen reden konnten, die als Erwachsene oder selbst als Kinder Vergewaltigungen, Hunger, Kälte und Sterben miterlebt und stillschweigend erduldet hatten. Die Überlebenden waren zeitlebens davon gekennzeichnet und gaben dies durch ihr eigenes Verhalten – ob durch aktive oder passive Gewalt, emotionale Distanz, mangelnde Aufarbeitung, Sucht und andere selbstzerstörerische Handlungen – direkt oder indirekt an folgende Generationen weiter. Dass alle Mahnungen eines „Nie wieder!“ doch immer verhallen und das menschliche Gewaltpotenzial allen ach so wunderbaren Errungenschaften unserer fortschrittlichen Zivilisation trotzt, ist zutiefst bestürzend.

Der drastische Gegensatz von heimeliger Häkelarbeit und verstörenden Inhalten, seit jeher ein Markenzeichen von Wallers Skulpturen, ist in den Werken dieser Ausstellung besonders ausgeprägt. Zusätzlich zu den Häkelskulpturen arbeitet Waller auch mit zweidimensionalen Bildern, die gestickt sind. Weitere mit glänzenden Pailletten gefertigte Bilder rufen Assoziationen mit Parties und Showbusiness hervor. Teilweise sind hier nur Umrisse oder Silhouetten zu sehen, die Inhalte aber sofort erkennbar. Es ist diese Vertrautheit, die wir mit den Motiven haben, die das eigentlich Erschreckende ist und die uns mahnt, dem Effekt der Gewöhnung daran zu widerstehen und in unseren Anstrengungen nicht nachzulassen, diesen Szenarien entgegenzuwirken.



As in the „Innocent“ exhibition, Waller, with her latest series of works entitled „Victims“, once again takes a hard look at various forms of worldwide violence against children, the weakest and most defenseless members of our society. In view of the seriousness of the topic, the artist deliberately dispenses with the ironic hyperbole and black humor, which are so often a hallmark of her works. Waller is not concerned with commenting on matters of current politics, even though she is very aware of the fact that art is always embedded within a political and social context. The relevance, however, of the visual language she selected for her recent works is chilling.

The corona crisis, with its sometimes very hard lockdowns, has again drawn public attention to the problem of domestic violence, to which children are so often exposed. With families being isolated in confined spaces over extended periods of time, there was an increase in emotional and physical violence. Reports of sexual abuse of children have also been very present in the media in recent years. The spotlight has not only been on the widespread incidents in the context of the Catholic Church and their attempted whitewashes. New revelations regarding the systematic mistreatment of native children in Canadian institutions during the 20th century have exposed shocking conditions. The regularly recurring school shootings in the United States time and again prompt the same hackneyed phrases of grief and condolence, but do nothing to effect any meaningful changes with regard to overly lax firearm laws: financial interests and ideological dogmas seem more important than the well-being of children.


These days, the terrible effects of wars on the physical and mental health of children is something very hard to not be aware of. Waller’s work is not only concerned with the direct or indirect victims of fighting, such as children who have lost limbs through bombing or land mines, or traumatized children in refugee camps. Child soldiers that have been pressed into service and systematically brain-washed are also victims of violence exerted by adults. Carpet bombings, massacres, the destruction of cities and habitats, food shortages, inflation and economic crises are especially hard on children who cannot understand the context, have not built up emotional resilience and are completely dependent, and they leave deep physical and psychological scars. As a child, the artist herself still knew traumatized fathers and mothers who could not talk about their war experiences, who had as adults or themselves as children witnessed and tacitly endured raping, hunger, coldness and dying. The survivors were deeply molded by these events and directly or indirectly passed it on to the succeeding generations through their own conduct—whether through active or passive violence, emotional distance, failure of coming to terms with the past, addiction and other self-destructive behavior. That all exhortations of „Never again!“ keep falling on deaf ears and that the human potential for violence keeps defying the ever so wonderful achievements of our advanced civilization, is deeply upsetting.


The drastic contrast of homely crochet work and disturbing subject matter, a recurring trademark of Waller’s sculptures, is particularly pronounced in the works of this exhibition. In addition to the crochet sculptures, Waller also works with two-dimensional embroidered images, as well as with pictures made with shiny sequins that stir up associations with parties and show business. Sometimes only outlines or silhouettes can be made out, but the content remains immediately recognizable. It is our familiarity with the motifs that is really frightening: it admonishes us to not give in to the effect of inurement, and to not slacken in our efforts to prevent these kinds of scenarios.


Die Ausstellung wird im Rahmen des Förderprogramms Neustart Kultur der Deutschen Bundesregierung sowie der Stiftung Kunstfonds gezeigt.


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